Vom Vorbild lernen?

Wir wollen mehr Frauen in technischen Bereichen und der IT, mehr Männer in Erziehungsberufen und mehr Diversität in Entwicklungsteams. Und sprechen dann oft davon, dass Vorbilder dabei helfen, Menschen für Neues zu gewinnen und Potenziale zu erschließen...

Wir wollen mehr Frauen in technischen Bereichen und der IT, mehr Männer in Erziehungsberufen und mehr Diversität in Entwicklungsteams. Und sprechen dann oft davon, dass Vorbilder dabei helfen, Menschen für Neues zu gewinnen und Potenziale zu erschließen.

Ich habe mal genauer hingeschaut, um zu verstehen, wie Vorbilder wirken und was wir daraus lernen können.

Nachahmen ist das grundlegende Lernprinzip von Menschen

Menschen lernen von klein an, indem sie andere Menschen beobachten und nachahmen. Sie lernen zunächst von den Bezugspersonen, in der Adoleszenz von Lehrern und Freunden; später durch bewusst gewählte und unbewusst wahrgenommene Vorbilder.

Auch beim Lernen zeigt sich: Das menschliche System ist darauf ausgelegt, so wenig wie möglich Energie zu verbrauchen. Wer andere nachahmt, lernt schneller und effektiver als durch Versuch und Irrtum.

Albert Bandura, ein kanadischer Psychologe, hat die sozialkognitive Lerntheorie – Modelllernen oder Lernen am Modell – entwickelt. Es werden darunter Lernvorgänge verstanden, die auf der Beobachtung des Verhaltens von menschlichen Vorbildern beruhen. Die physische Anwesenheit dieser Vorbilder (Modelle) ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Der Lernvorgang findet in zwei Phasen statt, der Akquisitionsphase zur Steuerung der Aufmerksamkeit und Speicherung des Beobachteten im Gedächtnis sowie der Ausführungsphase zur Reproduktion und Bekräftigung.

Aus dem Wechselspiel zwischen den sozialen und Umweltfaktoren bilden sich so im Laufe des Lebens komplexe Netzwerke auf der Ebene des Gehirns heraus, unsere Persönlichkeit. Ohne Vorbilder hätten wir die Fähigkeiten, die später die Persönlichkeit ausmachen, nicht lernen können.

Vorbilder verfestigen Muster

Mit dem Imitationslernen werden Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern von einer Generation zur nächsten weitergegeben, damit auch kulturspezifische und Rollenmuster. Es wird vermutet, dass die neurophysiologische Grundlage dieser Identitätsbildung auf dem Resonanzprinzip der Spiegelneuronen besteht.

Besonders Rollenmuster beeinflussen die Berufswahl und berufliche Entwicklungsperspektiven und -ziele.

Wie wir durch Fortschritte in der Neurowissenschaft wissen, sind Menschen in der Lage, lebenslang zu lernen. Folglich lohnt es sich, genauer hinzuschauen, wie Lern- und Entwicklungsprozesse nicht nur in der Kindheit, sondern auch im Erwachsenenalter durch Vorbilder gezielt unterstützt werden können. Auch, um in unserer Gesellschaft und in unserer Ökonomie das vorhandene Potenzial der Menschen durch erweiterte Rollenmuster besser zu nutzen.

Stereotyp Threat behindert Lernen – und verschenkt Potenziale

Stereotype sind Zuschreibungen, die Personengruppen gemacht werden, zum Beispiel „Mädchen sind schlechter in Mathe als Jungs“.

Autostereotype, also die eigenen Zuschreibungen, behindern die Umsetzung der vorhandenen Fähigkeiten in konkrete Leistungen. Die Bewertung der eigenen Leistung erfolgt auf der Basis eines negativen Stereotyps und führt zu einer „Selbsterfüllung“.

In der Forschung wird vom „Stereotype Threat“ gesprochen. Er definiert ein Gefühl der Bedrohung, das Personen in Situationen erleben, in der sie befürchten, aufgrund eines negativen Stereotyps über ihre Gruppe beurteilt zu werden und durch ihr Verhalten das Stereotyp zu bestätigen. Die gefühlte Bedrohung führt zu einer Schmälerung der eigenen Leistung. Die Relevanz des Stereotype Threat ist in vielen Studien nachgewiesen. Um bei dem Beispiel „Mädchen sind schlechter in Mathe als Jungs“ zu bleiben: Eine Studie hat gezeigt, dass Mathematikstudentinnen, die Sorge hatten, in der Prüfung schlechter abzuschneiden als ihre männlichen Kommilitonen und damit die geringere mathematische Begabung von Frauen zu bestätigen, schlechter abschnitten.

Vorbilder stärken die Selbstwirksamkeit

Von Albert Bandura wurde auch der Begriff der Selbstwirksamkeit geprägt. Selbstwirksamkeit (self-efficacy beliefs) ist die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Er hat nachgewiesen, dass Selbstwirksamkeit u. a. durch Vorbilder gestärkt werden kann. Es gibt inzwischen in allen Kulturen und Kontexten zahlreiche Studien, die belegen, welchen Einfluss Vorbilder auf die Selbstwirksamkeit haben können. Ich greife gerne auf eine Studie zurück, die in Uganda durchgeführt wurde. In einer Filmdokumentation wird eine Frau gezeigt, die aus ärmlichsten Verhältnissen stammt, einen Schulabschluss machte und dann Schachmeisterin wurde. Die Mädchen, die den Film sahen, zeigten im Anschluss deutlich bessere Leistungen in Mathematik.

Die Selbstwirksamkeitserwartung ist die Überzeugung, aufgrund eigener Fähigkeiten erfolgreich zu sein – in Mathe, beim Sport oder beim Wunsch, ins Weltall zu fliegen. Wir wissen, dass die Selbstwirksamkeitserwartung einen entscheidenden Einfluss auf die Berufswahl von Menschen hat. Sie ist damit ein Stellhebel, bei der Berufswahl die Beschränkung auf geschlechterspezifische Berufsbilder aufzuheben.

Vorbilder entmachten (Auto-)Stereotype

Stereotype verschenken Potenzial Sie schränken ein, den einzelnen Menschen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten und die Gemeinschaft in der Wahrnehmung und damit Verfügbarkeit von eigentlich vorhandenem  Potenzial.

Vorbilder helfen, die negativen Auswirkungen von Stereotypen und des Stereotype Threats zu überwinden. Die positive Bewertung des Vorbilds wirkt auf das Nachahmungsverhalten.

Menschen mögen Menschen, die ihnen ähneln

Die wahrgenommene Ähnlichkeit mit der eigenen Person erzeugt ein Streben nach mehr Ähnlichkeit. Sie zeigt uns, was aus uns werden könnte. Deshalb sind Vorbilder wirksamer, wenn sie eine Ähnlichkeit zur eigenen Person aufweisen, also z. B. das Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit. Menschen sehen sich leichter in einer Position, in der bereits eine Person ist, die ihnen ähnelt.

Vorbilder inspirieren und motivieren – sie eröffnen neue Räume

Da lohnt es sich doch, mal genauer hinzuschauen. Es ist doch ganz einfach, das Lernen am Modell zu nutzen. Wir wenden es seit unserer Geburt an. Und es scheint auch noch Spaß zu machen und Energie freizusetzen.

Wir wollen mehr Frauen in technischen Bereichen und der IT, mehr Männer in Erzie-hungsberufen und mehr Diversität in Entwicklungsteams – deshalb brauchen wir eine Vielfalt von Vorbildern – IT-Expertinnen, Pfleger, Vorständinnen, Lehrer, Mechatronikerinnen, Kindergärtner, Astronautinnen …

Machen Sie sie sichtbar – und auch sich selbst. Denn auch Sie sind ein Vorbild. Und suchen sich selbst Vorbilder.

#ichmache

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