Unter neuronaler Plastizität versteht man die Fähigkeit des Gehirns (von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen), sich in ihrer Anatomie und Funktion zu verändern und damit optimiert anzupassen.
Der Psychologe Donald O. Hebb gilt als der Entdecker der synaptischen Plastizität. Er formulierte 1949 die Hebbsche Lernregel in seinem Buch The Organization of Behavior. Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gaben Forschungen immer mehr Aufschluss über die plastische Formbarkeit des Gehirns, selbst weit in das Erwachsenenalter hinein.
Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler*innen als corticale Plastizität.
Wie sich die Neuronen[1] im Gehirn verschalten, ist Folge von Erfahrungen. Es gibt sensible Zeitfenster, in denen das Gehirn besonders plastisch ist. Doch auch jenseits der sensiblen Phasen ist Lernen möglich. Dabei spielen vielseitige Erfahrungen und Aufmerksamkeit eine wichtige Rolle.
Das menschliche Gehirn besteht aus etwa hundert Milliarden Nervenzellen, die über etwa hundert Billionen Verknüpfungen miteinander kommunizieren und das hervorbringen, was wir als Wahrnehmung (Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken), Denken, Sprache, Motorik, Emotion etc. bezeichnen.
Während bei der Geburt die meisten Nervenzellen (Neuronen) im Gehirn vorliegen, kommt es nach der Geburt zu einer explosionsartigen Zunahme der Verbindungen (Synapsen). Dabei entsteht unabhängig von Umwelt oder spezifischen Erfahrungen ein riesiger Überschuss an Verbindungsstellen zwischen den Neuronen. Im Laufe der Entwicklung wird dieses Überangebot an Synapsen in Abhängigkeit von deren Nutzungsgrad wieder abgebaut. Für die Selektion von Verbindungen sind demnach Erfahrungen essenziell. Die sich für die Verarbeitung als nützlich erweisenden Kommunikationsstellen werden weiter verstärkt und differenzieren sich funktionell aus. Für die Gehirnentwicklung sind also Selektion, Wachstum und Differenzierung charakteristische Merkmale. Dabei spielen Erfahrungen, das heißt die Umwelt des heranwachsenden Systems, eine entscheidende Rolle. Diese, so die Annahme, garantieren, dass sich unsere neuronalen Systeme bestmöglich auf die Anforderungen in einer bestimmten Umwelt einstellen.
Der Mensch verfügt ein ganzes Leben lang über ein gewisses Niveau an Neuroplastizität und damit Lernfähigkeit. Diese individuellen Grenzen – das legen die Studien zur Entwicklungsplastizität nahe – werden für jedes Individuum auch durch seine frühkindlichen Lernmöglichkeiten gesetzt. Damit sind beide, sich auf den ersten Blick widersprechende Volksweisheiten wahr: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ (sensible Phasen) und „Zum Lernen ist es nie zu spät“ (Erwachsenenplastizität). Auch wenn einerseits im Laufe unseres Lebens keine neuen Nervenzellen hinzukommen und uns damit das Lernen „einfacher“ machen, so können wir doch stetig neue Erfahrungen sammeln und damit immer wieder neue Verknüpfungen schaffen. So ist es z. B. einfacher im Erwachsenenleben, sich neue Methoden zum Lernen beispielsweise eines Instruments oder einer neuen Fremdsprache anzueignen, wohingegen das im Kindheitsalter eher spielerisch/intuitiv vonstattengeht.
Ursula M. Staudinger veröffentlichte zentrale Erkenntnisse ihrer über 20-jährigen Forschungsarbeit unter dem Titel “The Positive Plasticity of Adult Development: Potential for the 21st Century” in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift American Psychologist. Ihr Paradigma der Positiven Plastizität stellt einen wichtigen Schritt zum besseren Verständnis des dynamischen Prozesses der menschlichen Entwicklung dar und bietet Entscheidungshilfen für Sozialpolitik und wirksame Maßnahmen zur Optimierung des Alterns.
Literatur
Hebb, Donald O. The Organization of Behavior. The Neuropsychological Theory., 1949.
DiSalvo, David. Brain Changer – Denken Sie Ihr Leben neu. Übersetzt von Jorunn Wissmann. Sachbuch. Berlin Heidelberg: Springer Spektrum, 2016.
Eagleman, David. The Brain: Die Geschichte von dir. 1. Aufl. München: Pantheon Verlag, 2017.
Staudinger, Ursula M. „The Positive Plasticity of Adult Development: Potential for the 21st Century“. American Psychologist, Nr. Vol. 75, No. 4 (2020): 540–53.
Staudinger, Ursula M. „Menschliches Altern neu denken.“ www.ursulastaudinger.com. Zugegriffen 7. Oktober 2020. https://www.ursulastaudinger.com/de/aktuelles/.
[1] Eine Nervenzelle, auch Neuron (von altgriechisch νεῦρον neũron, deutsch ‚Flechse‘, ‚Sehne‘; ‚Nerv‘) genannt, ist eine auf Erregungsleitung und Erregungsübertragung spezialisierte Zelle, die als Zelltyp in Gewebetieren und damit in nahezu allen vielzelligen Tieren vorkommt. Die Gesamtheit aller Nervenzellen eines Tieres bildet zusammen mit den Gliazellen das Nervensystem. [Für weitere Informationen: https://de.wikipedia.org/wiki/Nervenzelle, letzter Zugriff: 28.06.2020.]